Werte Gemeinde
Das wohl beste Lied des neuen Jahrtausends für mich der Hosen ist "Das Mädchen aus Rottweil".
Es ist anders, kein klassischer Hosen-Songs im Arrangement, jedoch klassisch was Melodie, Tempo und Melancholie angeht - und da ist der Song so unfassbar stark gemacht. Vielleicht ist es das "zigeunerhafte", diese Geigen - jedenfalls ist die Atmosphäre darin sowohl abenteuerlich offensiv, als auch melancholisch defensiv. Wie der letzte Sonnentag eines Sommers.. Die Gegensätze im Song - dieses gleichzeitig traurige und dennoch vorantreibende "1, 2 - 1, 2, 3, 4 - heyheyhey.." - machen ihn zu etwas ganz Besonderem.
Und neben der wunderbaren Musik ist ja noch der Text. Die Geschichte.
Wer hat das noch nicht erlebt; diesen Moment, wo man sein Herz verliert... Diese Sekunden, Augenblicke, wo man mehr spürt als sonst. Man sieht jemanden und es schlägt einfach ein - ohne Vorankündigung. Bäm!
Und da steht man dann, weiss, dass man im Prinzip keine Chance hat - man müsste umgehend handeln. Doch weil einem das bewusst wird, ist man durch Überforderung paralysiert..
Oft geschehen diese Momente in jungen Jahren, meist als Teenager. Und in der Regel ist man nicht in der Lage zu handeln, wodurch dann eben überhaupt auch die Story der vergebenen Chance bei "Liebe" auf den ersten Blick entstehen kann. Magisch, wunderschön - und unvergesslich.
Habt ihr solche Momente erlebt?
Ich rede nicht von einer unerwiderten Liebe einer Klassenkammeradin oder eines Klassenkammeraden... Eher eben einen Augenblick oder Moment der vertanen Chance. Oder einen Abend, an dem da jemand war, den ihr bis heute nicht vergessen habt, jedoch die Gunst der Stunde nicht zu nutzen vermochtet... Vielleicht, wenn man am letzten Abend des Urlaubes noch jemanden kennenlernt... Oder während eines Konzertes - oder eben nur irgendwo unterwegs... Flüchtig, eine Sekunde... Und man vergibt diese einzige, kleine Chance.
Ich würde gerne die Geschichte über euer Mädchen/euren Jungen aus "Rottweil" oder woher auch immer hören. Dazu ist der Thread hier.
Auch wenn man gegenwärtig glücklich in einer Beziehung ist, kann es doch einen Menschen aus der Vergangenheit geben, an den ihr heute noch ab und zu denkt. Dieses "was wäre wenn"-Gefühl...
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Um den Anfang zu machen:
Ich hatte einen solchen Moment. Der Moment dauerte einen Abend und ist 27 Jahre her.
Ich erinnere mich noch als wäre es gestern gewesen, auch wenn das Gesicht des Mädchens längst verblasst ist - ich würde sie, selbst wenn sie immer noch gleich aussehen würde wie an jenem Herbsttag im September 1992, wohl nicht mehr erkennen, wenn sie meinen Weg kreuzen würde.
Was jedoch blieb ist der Duft ihres Parfüms in meiner Nase, das Gefühl das ich hatte und das ich auch heute noch mit sonnigen, jedoch kalten Herbsttagen assoziiere, wenn die Sonne tiefer steht und lange Schatten wirft.
Es war bei einem Hosen-Konzert, 5. September 1992 in Winterthur.
Ich war mit meiner Schwester und meinem besten Kumpel dort. Alles war perfekt - es war exakt eine Woche vor meinem 16. Geburtstag und ich war verschossen in die Hosen, ihre Musik, ihre Attitüde - unberechenbar wie damals alles war, standen alle Zeichen auf Abenteuer. Auf Neuentdeckung! Liegt sicher auch am damaligen Alter.. 15 ist jung, da ist man Teenager und fühlt auch so.
Jedenfalls waren wir früh da - es war ein Open-Air, inmitten der Altstadt von Winterthur. Vorband waren die Manic Street Preachers, damals eine noch wütende und zornige Band. Das ist insofern wichtig, als dass ihr Song "Motorcycle emptiness" an jenem Tag in mein Leben trat und für die ganze Story Pate steht...
Genannter Song spielten die MSP im Soundcheck, den wir vor dem Gelände geniessen konnten. Wir hatten 3 1,5 Liter Petflaschen mit selber gemachtem Sangria dabei, sassen auf dem kalten Boden - Sonne stand bereits um 15 Uhr schon tief, es war kühl, doch die Musik und der Sangria - und die grosse Vorfreude auf die Hosen - wärmten uns. Da erklang ein mir unbekannter Song - wunderschön, ein supergeiles Gitarren-Solo-Riff... Ich war total verliebt! In den Song. Ich kannte ihn nicht - es war genanntes "Motorcycle emptiness". Ich merkte da bereits, dass der Tag perfekt werden könnte. Und das wurde er auch - es war das beste Hosen-Konzert ever für mich und ab da wurde ich Fan von den Manic Street Preachers.
..aber worum es hier geht: Es gab natürlich auch ein Mädchen!
Auf einmal stand sie während der Hosen-Show neben mir - die Sonne ging gerade unter, die letzten Strahlen drangen zwischen den Hochhäusern in die Altstadt ein. Das Mädchen erschien mir vielleicht auch deswegen wie ein Engel, jedenfalls glaubte ich in diesem Moment, ich hätte noch nie eine schönere Frau gesehen als sie. Sie war nach meinem damaligen Geschmack perfekt. So ein Hippie-Punkmädchen mit einem bunten Wollpullover, engen Jeans, Doc Martens und voluminösen, langen Haaren - und obwohl ich ihr Gesicht wie durch eine dicke Nebelwand vor mir sehe weiss ich, dass es unfassbar schön war. Blaue Augen, volle Lippen und relativ ausgeprägte Wangenknochen, wie man sie häufig bei Ost-Europäern oder Russen sieht. Wunderschön. Und daneben ich: Ein schlaksiger Kerl mit langen, blond gefärbten Haaren, Lederjacke mit Jeans-Gilet drüber und Campino-Wollpullover drunter.. Dazu eine Brille, wie man sie heute höchstens noch zum Schweissen trägt. Brutal hässlich! Was wollte Gott uns damit sagen? Dieses wunderschöne Geschöpf und daneben ich..? Das Biest und die Schöne... Und ich wusste auch, dass das Verhältnis nicht stimmt.
...dennoch suchte ich ihre Nähe. Ich war stets bei ihr und guckte unauffällig zu ihr rüber - und auf einmal guckten wir uns zeitgleich an und merkten es; lass es 5 Sekunden gewesen sein, es fühlte sich zeitlos an, dieser direkte Augenkontakt. Es war, als würde ich schweben, als würde ich alle Rätsel des Universums verstehen. Es wäre DER Moment gewesen sich vorzustellen, ich zögerte jedoch eine Sekunde - und da hing auch schon der gut angetrunkene Kumpel an mir und schrie mir den Text des Songs ins Ohr, den die Hosen gerade performten - ich meine es war "Do anything you wanna do".
Die magische Chance war vertan, dennoch tanzten sie und ich Arm in Arm und für einen Song nahm ich sie sogar auf die Schultern... Es hätte also Möglichkeiten gegeben, doch sowohl ich als auch sie - beide sagten nichts. Es war ein stummes Miteinander.
Wie sich die Szene aufgelöst hat, weiss ich nicht mehr... Jedenfalls mussten wir zum Bahnhof rennen um noch den Zug zu erwischen - eine Chance abzuwarten und sie zu suchen gab es also nach dem Konzert nicht...!
Ich brannte für dieses Mädchen und konnte an nichts anderes als an sie mehr denken. Perfekt; die Hosen, die MSP und das Mädchen aus Winterthur. Und obwohl ich glücklich war, schwang eine Melancholie mit...
Ich war mir 100% sicher, dass ich sie wiedersehen werde, wenn ich eine Woche später - zu meinem Geburtstag - nach Zürich fahren würde um mir eine neue Gitarre zu kaufen. Ich ging davon aus, dass sie mir auf dem kurzen Weg vom Bahnhof bis zum Musikgeschäft begegnen würde. Ich war mir sicher. Und ich hatte mir vorgenommen, dass ich sie dann ansprechen werde...!
Ich sah sie bis heute nie wieder. Egal in welchem der folgenden Jahre - egal ob 1998, 2007 oder jetzt 2019; vergessen habe ich sie nie!