"Punker “Pankow” aus Pankow
vom 16. Juli 2011 um 15:58 | Autor: dapd
Berlin (dapd). Das Archiv über Ost-Punk in Berlin-Pankow ist fein säuberlich aufgeräumt. Es duftet gutbürgerlich nach Kaffee, in den Regalen stehen Aktenordner in Reih und Glied, und die Frisur des Chefs ist so gepflegt wie praktisch kurz. Ein ganz normales Büro auf den ersten Blick.
Wie bunt und brisant die Materialsammlung selbst ist, können Interessierte ab Montag (18. Juli) erfahren, wenn das Archiv unter dem Namen “Substitut” seinen Betrieb aufnimmt.
Geführt wird das Büro in der Damerowstraße 3 von Michael Boehlke. Boehlke ist selbst Teil des Archivs: Zu DDR-Zeiten gehörte er zum Kern der Ostberliner Punkerszene und war republikweit bekannt, weil er mit seiner Band Planlos den Untergrund der DDR aufmischte.
5.000 Fotos, dazu Filme und Stasiakten
“Heute ist das für mich ein Geschäft”, gibt Boehlke unumwunden zu. “Das von ihm zusammengetragene Archiv umfasst 5.000 Fotos, Super-8-Filme, Poster, Musikmitschnitte und Stasiakten. Alles ist katalogisiert und beschriftet. Besucher können vorbei schauen oder sich die Daten digital zustellen lassen. Forscher sind willkommen, wer Fotos oder Filmmaterial kommerziell verwerten möchte, muss dafür zahlen.
Ganz der nüchterne Geschäftsmann ist Boehlke aber denn doch nicht. Sein Punk-Name “Pankow” blieb, womit er auf den Heimatbezirk Bezug nimmt. Und obwohl Boehlke “Substitut” mit drei Mitarbeitern professionell aufgezogen hat und zwischen “Person und Geschäft trennt”, wie er sagt, steckt der Anarchist “Pankow” noch tief drin.
Richtig bewusst geworden ist ihm das 2005. Damals bereitete er die Ausstellung “ostPunk! – Too much future” vor, die vom gleichnamigen Dokumentarfilm begleitet wurde. Ein Buch folgte. “Die Recherche dazu war für mich auch Chance und Pflicht zur Aufarbeitung”, sagt Boehlke heute. Dazu zählte auch das Trauma seiner Stasihaft.
Der Film reist noch immer durch die Welt und zeigt, dass Jugendliche in der DDR nicht uniform die Blauhemden der Freien Deutschen Jugend (FDJ) trugen, sondern gelegentlich auch blau gefärbte Haare.
Mehr noch: Punk aus Ostberlin, wie ihn “Pankow” und seine Kumpels zelebrierten, hatte Schnittmengen mit der Modeavantgarde der DDR. Das betraf die Frisuren, aber auch das Design der Kleidung und wurde bei Kunst-Feten deutlich. Später sogar bei staatlich organisierten Modenschauen.
DDR-Punks als Fotomodelle
Festgehalten ist das im Modezentralorgan “Sibylle”, deren Fotografen bei den Punks ein- und ausgingen. So wundert es nicht, dass die Bilder im Archiv einerseits Amateurbilder sind, andererseits Urheber-Namen wie Helga Paris, Harald Hauswald und Sven Markquardt tragen. Markquardt gilt heute als der “härteste Türsteher von Berlin”, sein Arbeitsplatz ist der Technoclub Berghain.
Das Punker-Archiv erzählt auch Geschichten von Enttäuschung und Verrat. So entpuppten sich nach 1989 gleich zwei Mitglieder der Leipziger Band “Wutanfall” als Spitzel der Staatssicherheit. Aus einigen Punkern waren Neonazis geworden. Ein berühmter DDR-Punk stieg zum Chef einer Rockerbande auf.
Die Sammlung zeigt auch, dass die Szene in der DDR alles andere als homogen war. “Wir hatten hier beispielsweise eine andere Härte in der Stadt, auch wegen der Nähe zu Westberlin”, sagte Boehlke. Im Rest der kleinen Republik seien die Punks “etwas netter” gewesen.
Nett in Berlin war die Kirche zu den Punkern. Im Archiv finden sich Fotos der berühmten Blues-Messen, die Pfarrer Rainer Eppelmann abhielt und die bald zu wilden Punkpartys ausarteten.
Wie die Musik von damals noch heute funktioniert, erfuhr “Pankow”, Jahrgang 1964, jüngst von seiner Tochter. Die 24-Jährige hörte Songs von Planlos, ohne über die Vergangenheit des Vaters Bescheid zu wissen. “Sie war absolut begeistert”, sagt Boehlke. “Dann habe ich ihr erzählt, wer da singt.” "
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Und noch ein Artikel dazu aus der Berliner Morgenpost:
"Punks in der DDR - Wilde Pogopartys in den Kirchen
Montag, 18. Juli 2011 02:14 - Von Torsten Hilscher
Das Archiv über Ost-Punk in Pankow ist fein säuberlich aufgeräumt. Es duftet nach frischem Kaffee, in den Regalen stehen Aktenordner in Reih und Glied, und die Frisur des Chefs ist so gepflegt wie praktisch kurz. Heute nimmt das Archiv in der Damerowstraße 3 unter dem Namen "Substitut" offiziell seinen Betrieb auf.
Geführt wird es von Michael Boehlke. Boehlke ist selbst Teil des Archivs: Zu DDR-Zeiten gehörte er zum Kern der Ost-Berliner Punkerszene und war republikweit bekannt, weil der Sänger mit seiner Band Planlos den Untergrund aufmischte.
Es sind die wilden Achtziger: In der ersten Punkband Koks spielt das jugoslawische Botschafterkind "Ilja" (16) mit, das erste Konzert findet in der Jugoslawischen Handelsvertretung statt. Weil es keine Punkklamotten gibt, läuft man in der Pause in die nahe gelegene Charité, um ein paar grüne OP-Klamotten zu klauen. Zu Silvester 1981 geben die Bands Rosa Extra, Fünf Wochen im Ballon, Planlos und Unerwünscht ein Punkfest im Prenzlauer Berg. Im Archiv finden sich Fotos der berühmten Blues-Messen, die Pfarrer Rainer Eppelmann, der später der letzte DDR-Verteidigungsminister wurde, abhielt und die bald zu wilden Punkpartys ausarteten.
Es ist die Evangelische Kirche, die sich der Randgruppe Punk annimmt, sie schützt. Hier hat die Staatsmacht keinen direkten Zugriff. Einmal geben die Toten Hosen ein spontanes Gastspiel in Ost-Berlin. Pfarrer Langhammer von der Erlöserkirche deckt das Ganze. Es gibt ein Konzert - zur Hälfte Planlos, zur Hälfte die Toten Hosen - vor rund 15 Zuschauern. Pünktlich null Uhr sind die Toten Hosen wieder am Checkpoint Charlie. Die einen wurden später berühmt, die anderen bald verhaftet. Michael Boehlke lebt immer noch mit dem Trauma der Stasihaft.
Das von ihm zusammengetragene Archiv umfasst 5000 Fotos, Super-8-Filme, Poster, Musikmitschnitte und Stasiakten. Alles ist katalogisiert und beschriftet. Besucher können vorbei schauen oder sich die Daten digital zustellen lassen. Forscher sind willkommen, wer Fotos oder Filmmaterial kommerziell verwerten möchte, muss dafür zahlen. Ganz der nüchterne Geschäftsmann ist Boehlke aber denn doch nicht. Sein Punk-Name "Pankow" blieb, womit er auf den Heimatbezirk Bezug nimmt. Und obwohl Boehlke "Substitut" mit drei Mitarbeitern professionell aufgezogen hat, sagt er, stecke der Anarchist "Pankow" noch tief in ihm drin.
Richtig bewusst geworden ist ihm das 2005. Damals bereitete er die Ausstellung "ostPunk! - Too much future" vor, die vom gleichnamigen Dokumentarfilm begleitet wurde. Ein Buch folgte. "Die Recherche dazu war für mich auch Chance und Pflicht zur Aufarbeitung", sagt Boehlke.
Der Film reist noch immer durch die Welt und zeigt, dass Jugendliche in der DDR nicht uniform die Blauhemden der Freien Deutschen Jugend (FDJ) trugen, sondern gelegentlich auch blau gefärbte Haare. Mehr noch: Punk aus Ost-Berlin, wie ihn "Pankow" und seine Kumpels zelebrierten, hatte Schnittmengen mit der Modeavantgarde der DDR. Das betraf die Frisuren, aber auch das Design der Kleidung und wurde bei Kunst-Feten deutlich. Später sogar bei staatlich organisierten Modenschauen. Festgehalten ist das im Modezentralorgan "Sibylle", deren Fotografen bei den Punks ein- und ausgingen. So wundert es nicht, dass die Bilder im Archiv einerseits Amateurbilder sind, andererseits Urheber-Namen wie Helga Paris, Harald Hauswald und Sven Markquardt tragen. Markquardt gilt heute als der "härteste Türsteher von Berlin", sein Arbeitsplatz ist der Technoclub Berghain.
Das Punker-Archiv erzählt auch Geschichten von Enttäuschung und Verrat. So entpuppten sich nach 1989 gleich zwei Mitglieder der Leipziger Band "Wutanfall" als Spitzel der Staatssicherheit. Aus einigen Punkern waren Neonazis geworden. Ein bekannter DDR-Punk stieg zum Chef einer Rockerbande auf. Die Sammlung zeigt auch, dass die Szene in der DDR alles andere als homogen war. "Wir hatten hier beispielsweise eine andere Härte in der Stadt, auch wegen der Nähe zu Westberlin", sagte Boehlke. Im Rest der kleinen Republik seien die Punks "etwas netter" gewesen."