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Die Hintergründe zum Stones-Debakel
Die Rolling Stones werden wohl nicht in der Schweiz spielen – die Veranstalter erbitten staatliche Hilfe. Braucht es das wirklich? Und wie viel kann man mit einem solchen Anlass bestenfalls verdienen?
Um das Konzert-Metier ranken sich noch immer die abenteuerlichsten Mythen: Hier können locker Millionen verdient werden – so die weit verbreitete Meinung –, und die Stars auf der Bühne führen ohnehin ein Leben in ewiger Unbeschwertheit. Doch wer hinter den Vorhang blickt, bemerkt, dass die Goldgräberstimmung längst Geschichte ist. Das Veranstaltungswesen folgt einer rigoros durchkalkulierten Ökonomie. Und der letzte Funken Rock’n’Roll-Romantik wird nur noch von einigen betagten Bands aufrechterhalten, die sich auf nicht enden wollenden Abschiedstourneen befinden.
Eine dieser Bands sind die Rolling Stones. Ein Konzert von ihnen zu organisieren, so dachte man bis Anfang dieser Woche, ist in der Routine einer Welttournee ein kalkulierbares Risiko. Und dann geschah das scheinbar Unvorstellbare: Mick Jagger erkrankte an Corona, und der Veranstalter erbat nach der vorläufigen Verschiebung des Wankdorf-Konzerts Staatshilfe und klagte, dass im Falle einer unterlassenen Hilfeleistung kein Veranstalter das Risiko eines Grosskonzerts mehr tragen werde.
Ans Grönemeyer-Konzert kamen nur 25’000 Besuchende, 17’000 weniger, als erwartet wurden. Das Wort Millionendefizit geisterte damals durch die Medien.
Dass fehlkalkulierte Stadionkonzerte einen Veranstalter ins Elend bugsieren können, hat sich in den letzten Jahren schon öfters gezeigt. Im Juni 2011 veranstaltete die Berner Firma Appalooza ein Konzert von Herbert Grönemeyer im Wankdorf. Ein überschaubares Risiko, glaubte man. Doch das neue Album des Publikumslieblings wollte nicht zünden, und so kamen nur 25’000 Besucherinnen und Besucher ins Stadion, 17’000 weniger, als erwartet wurden. Das Wort Millionendefizit geisterte damals durch die Medien – Appalooza bietet sich heute unter anderem als Veranstalter von Schwingfesten an.
Bob Dylan und das Wetterrisiko
Zwei Jahre später stand folgender Satz auf der Website des Schweizer Grossveranstalters Taifun Music: «Die enorm gestiegenen Künstlergagen und allgemeinen Kosten sowie die eher stagnierende Anzahl Konzertbesucher haben zur Zahlungsunfähigkeit der Firma geführt.» Zuvor war man in finanzielle Schieflage geraten, weil man – so wurde gemunkelt – Bob Dylan an einem Open Air in Sursee mit einer Gage vergütet hatte, die dieser bei weitem nicht einspielte. Am Tag zuvor war ein Sturm übers Gelände gefegt, und man nahm an, dass dies einige vom Besuch des Festivals abhielt. Danach witzelte die Szene, dass Bob-Dylan-Anhänger eben nicht gerne in Schlammpfützen stünden, und besetzte ihre Festivals fortan mehrheitlich mit Hauptdarstellern, die ein bedeutend jüngeres und wetterfesteres Publikum ansprachen.
Es ist kein Geheimnis, dass mit grossen Namen im Veranstaltungsbusiness längst nicht mehr das grosse Geld zu machen ist. Die Gewinnmargen sind in diesem Segment klein geworden. Da die Bands im Streaming-Zeitalter kaum mehr Geld mit ihren Produktionen verdienen, suchen sie ihr Heil in den Konzerteinnahmen. Und je grösser und selbstbewusster die Bands, desto kleiner die Gewinnmöglichkeiten für die Organisatoren. Branchenkenner schätzen, dass im Wankdorf mit einer Kapazität von circa 42’000 Zuschauern (je nach Grösse der Bühne) für den Veranstalter etwa ab 38’000 Besuchern ein Gewinn herausspringt. Dieser ist dann ordentlich – vorausgesetzt, das Konzert ist ausverkauft. Aber wehe, es ist nicht.
Für das Schweizer Konzert der Rolling Stones waren noch Tickets erhältlich – das Stadion wäre bloss zu 90 Prozent gefüllt gewesen. Auch wenn die Veranstalter glaubten, dass noch Ticktes an der Abendkasse verkauft worden wären: Es fehlten just die letzten 5 bis 10 Prozent, ab denen die Veranstalterkasse in diesem Konzertsegment jeweils zu klingeln beginnt. Das hatte natürlich weniger mit der Popularität der Band zu tun als mit den weitherum als unanständig hoch empfundenen Preisen: Die günstigsten Plätze mit Sichteinschränkung gab es im Wankdorf ab 150 Franken, ein Stehplatz in der Nähe der Bühne kostete 480 Franken.
Konzert-Multi im Rücken
Womit wir wieder beim Befremden wären, das ein Veranstalter auslöst, der bereits nach der krankheitsbedingten Verschiebung des Rolling-Stones-Konzerts den Staat um finanzielle Unterstützung bat und vorrechnet, dass allein die Stadionmiete gegen 300’000 Franken koste. André Bechir und seine Gadget ABC Entertainment Group AG sind kein kleiner lokaler Konzertveranstalter, dem ein solcher Ausfall das Genick brechen könnte, sondern eine Firma, die Teil von CTS Eventim ist, dem zweitgrössten Eventveranstalter und Ticketvermarkter der Welt.
Eine Firma, über die der weitherum angesehene Autor und Konzertveranstalter Berthold Seliger bei deren Markteintritt in die Schweiz im Jahr 2020 Folgendes sagte: «Der Hauptgrund, warum Konzerttickets immer teurer werden, hängt nicht unbedingt damit zusammen, dass die Musiker immer gieriger werden, sondern dass der ganze Livemarkt im Wesentlichen unter den beiden Branchenführern CTS Eventim und Live Nation aufgeteilt ist.»
Das Geschäftsmodell von CTS Eventim beinhalte eine ziemlich aggressive Expansionspolitik, mit dem Ziel, den europäischen Markt zu dominieren. So kaufe man reihenweise Festivals, Spielstätten und Agenturen auf, um im derzeit lukrativsten aller Musik-Geschäftsbereiche – dem Verkauf von Tickets – grossen Profit zu machen. 2018 wurden rund 250 Millionen Tickets über die Systeme des Unternehmens vermarktet. Auch dazu hat Berthold Seliger eine dezidierte Meinung: «Die Bruttomarge beim Ticketverkauf im Internet liegt bei circa 60 Prozent. Das ist eine gigantische Gewinnquote, ohne dass die Tickethändler dabei ein Risiko eingehen oder gross dafür zu arbeiten brauchen.»
Grundsätzlich finde er es ein wenig absurd, wenn künstlich aufgeblähte und überteuerte Kulturveranstaltungen plötzlich vom Staat subventioniert werden wollten. «Andererseits – wo ist die Grenze? Clubkonzerte ja, Grosskonzerte nein?» In Deutschland habe CTS Eventim über 150 Millionen Euro Wirtschaftshilfen vom Staat bekommen und so seine mächtige Position noch weiter ausbauen können.
Die Sache mit der Versicherung
Wenn man also in der ganzen Musikverwertungskette noch Goldgräber-Jubelgeschichten suchen will, findet man sie am ehesten im Börsenkurs der Veranstalter des Rolling-Stones-Konzerts. Dass sie darauf verzichtet haben, eine teure Covid-Versicherung abzuschliessen, war Teil einer bestimmt ziemlich sorgfältig durchgeführten Risikoanalyse, die heute für praktisch jedes Konzert betrieben werden muss.
Kommt hinzu, dass heute kein Konzertvertrag mehr ohne eine Covid-Klausel unterschrieben wird. Meist besagt diese, dass bei einer Absage oder einer Verschiebung sowohl der Veranstalter als auch die Band auf ihren Kosten sitzen bleiben. Und meist werden die Parteien angehalten, dieses Szenario im Eigeninteresse zu versichern – was im Falle eines Rolling-Stones-Konzerts vermutlich einen hohen fünfstelligen Betrag gekostet hätte. Risikoanlaysen, Versicherungen, Börsenkurse: So viel zur Romantik des Konzerteveranstaltens im Jahre 2022.