Alles klar, dann mal ans Werk!
Vorab sage ich schonmal, dass ich keine Punkte für die einzelnen Songs vergeben werde, weil mir das nicht möglich ist.
E.V.J.M.F.
Witziger Einstieg, ich hatte schon mit irgendeiner ähnlichen Alberei gerechnet, insofern war ich nicht großartig geschockt. Da die Ärzte an so was aber Spaß haben, sei es ihnen gegönnt. Und vom Hörgenuss geht das Ding tatsächlich ins Ohr, auch wenn Autotune natürlich bergehoch drüber ist, aber so grundsätzlich ist das ein Trap-Song der besseren Sorte.
Plan B
Den wollte Farin anfangs gar nicht auf dem Album, sondern als B-Seite haben. Ganz am Anfang hätte ich das sogar verstanden, weil ich ihn textlich zunächst belanglos fand. Aber zum Einen leuchtet Belas Begründung ein, dass der Song auf der Platte genau an der Stelle Sinn macht. Ginge es nach dem Intro mit Achtung: Bielefeld weiter, hätte dem Album was gefehlt. Zum Anderen ist der Text gar nicht mal so belanglos, wenn man sich zum einen anschaut, wie sehr Farin sich darin selbst auf die Schippe nimmt, indem er seine eigene Irelevanz besingt. Außerdem finde ich, dass man ihm darin seine ehrliche Dankbarkeit dafür abnimmt, welches Privileg er mit seiner Berufswahl genießt. Schöner Track!
Achtung: Bielefeld
Frei nach der Partei Die PARTEI: für die Einführung einer Faulenquote! Für mehr Drückeberger und Müßiggänger in Vorständen. Dem Text wohnt eine sehr viel wichtigere Botschaft inne, als die meisten vermutlich verstehen. Wer nach der Zeile mit der Mutter in Aleppo immer noch nicht begriffen hat, was für eine geile Sache das Nichtstun eigentlich ist, dem kann ich dann auch nicht mehr helfen. Musikalisch geht das auch absolut klar, keine Offenbarung, aber ein stabiler Song.
Warum spricht niemand über Gitarristen?
Fand ich anfangs von der Botschaft her auch eher mau, aber musikalisch sehr, sehr stark. Tolle Melodie und, da schließe ich mich Hubsi an, "N-N-N-N-Nerven gehen" ist ganz große Klasse. Die Aussprache von "Beyoncé" war für mich das erste textliche Highlight des Songs. Ansonsten ist der inhaltlich auch gewachsen bei mir. Als Sänger kann ich ganz gut über den Gitarristen-Diss lachen, wobei mir eine andere Interpretation noch wesentlich besser gefällt: Farin bezeichnet Gitarristen als absolute Langweiler, direkt im Anschluss an Achtung: Bielefeld, wo Bela mehr Langeweile/Langweiler fordert. Zufall oder Genialität?
Morgens pauken
Das erste dicke Highlight der Platte! Wunderbares Brett in die Fresse von allen, die mal Punk waren, es noch glauben zu sein, von Punk selbst und dessen Ausschlachtung durch die Marktmechanismen. Musikalisch voll auf die zwölf, sehr repetitiv zwar, aber ich mag die Gitarre und live kann der nur gut werden. Dazu voller großartiger Anspielungen. Punkamaria! 
Das letzte Lied des Sommers
Wäre die HELL 2019 rausgekommen, hätte mich der Song wohl nicht vom Hocker gerissen. Jetzt, in der aktuellen Situation, ging er mir richtig unter die Haut. Das Meer hab ich zuletzt im Januar gesehen, beziehungsweise überhaupt irgendwas anderes als Würzburg und München... Das Fernweh hat mich schon seit April und dieser Song drückt es perfekt aus. Bezeichnend zudem, dass wir trotzdem im Berufsverkehr stecken. Der Kapitalismus schläft auch in Krisenzeiten nicht.
Clown aus dem Hospiz
Einer meiner Top 3-Songs auf der Platte! Ich weiß nicht, ob man dafür selbst Musik oder in irgendeiner Form kulturschaffend sein muss, um den Text komplett zu vestehen, aber er spricht mir aus der Seele! Ich war mal glücklich verliebt und habe monatelang nichtmal eine Strophe zu Papier gebracht. Zum Kotzen so was!
Insofern transportiert der Song perfekt die Traurigkeit und Melancholie, aber ist, genau wie er selbst es beschreibt, trotzdem wunderschön. Ein gottverdammtes Meisterwerk!
Ich, am Strand
Direkt der nächste aus den Top 3 hinterher. Hier steckt so vieles drin. Der tragische Verlauf, den ein Leben nehmen kann, obwohl die Bedingungen doch gar nicht unbedingt so schlecht waren. Wenn ich da jetzt noch tiefer einsteige, verliere ich mich darin, so viel Tiefe besitzt dieser Song. Die ganze Tragweite vielleicht in einem Satz zusammengefasst: Aufgrund solcher Geschichten sollte man einem Harald Krull vielleicht einmal öfter zuhören, statt ihn auszulachen, wenn er behauptet, Käpt'n zur See gewesen zu sein!
True Romance
Musikalisch ein echt guter Popsong. Vampyrella sprach von "zu sehr Boomer-Humor", was ich nachvollziehen kann. Aber andererseits saß ich auch schon mal in einer Wohnung mit so einem Drecksding. Wenn die dann auf die versauten Fragen, die NATÜRLICH irgendwann kommen, immer ausweichend antwortet, schaukeln sich die Witze und Spekulationen schon hoch, so fern der Realität eines Mittzwanzigers ist das also gar nicht. Was ich aber noch wesentlich stärker finde: die Vorstellung, wie irgendwelche Schwachmaten, die sich so ein Ding tatsächlich ins Haus geholt haben, den Song hören und er es jedes Mal auslöst! Passenderweise gleich Siri UND Alexa!
Achja und Daumen hoch für H.P. Baxxter! 
Einmal ein Bier
Der Song, den ich anfangs noch am ehesten als Ausfall bezeichnet hätte. Musikalisch am ehesten an den Solosachen von Bela dran, die ich einfach nicht so feiere. Aber mittlerweile geht mir auch der ganz gut rein. Gerade wenn man das Gefühl kennt, sich morgens nach durchzechter Nacht auf die Straße zu ergießen und Traum und Realität irgendwann miteinader verschwimmen. Tut mit seinen zwei Minuten Länge auch niemandem weh.
Wer verliert, hat schon verloren
Schöne Hymne auf vergangene Kämpfe, die dann doch noch nicht vorbei sind, weil irgendetwas immer weiter geht. Musikalisch geht mir das gut rein, textlich entfacht es das Gefühl noch nicht so ganz, aber da sehe ich doch eindeutig Wachstumspotential. Zündet vielleicht etwas später als der Rest, was aber nicht heißen soll, dass ich ihn nicht mag. Auch jetzt schon ein guter Song.
Polyester
Zum N-I-E-D-E-R-K-N-I-E-N! Der dritte aus den Top 3 und was für einer! Ich mochte schon Sohn der Leere, das hier übertrumpft ihn aber um Längen. Ja, der Reim fatal auf normal ist etwas holprig, aber in dieser Zeile ist dann auch schon die Gefahr von exponentiellem Wachstum bei der Plastikmüllproduktion ausgedrückt. Das Lied macht mich so glücklich und traurig zu gleich. Gänsehaut bei jedem Hördurchgang. Man möchte weinen, man möchte schreien, man möchte um drei Uhr nachts seinen besten Freund anrufen und ihn fragen: Wie kann aus etwas so hässlichem wie Plastikmüll nur so ein schönes Musikstück werden? Wie entstehen so großartige Zeilen wie "Ein Herz aus Ethylen kann allem widerstehen" oder "Was zehntausend Jahre währt, das ist nicht verkehrt"... Das ist genau die richtige Art, das Thema zu verarbeiten. So und nicht anders. Allerdings ist hier auch schon der größte Kritikpunkt des Album enthalten: warum ist diese Perle nicht mindestens acht Minuten lang? 
Fexxo Cigol
Ja! Genau so rechnet man mit Verschwörungsideologen ab. Es nützt nichts, jedes einzelne Hirngespinst argumentativ entkräften zu wollen. Auf den Punkt gebracht ist es mit: Dinge passieren. Die Entropie des Universums schlägt zu. Es steckt nicht hinter allem ein Plan. Großartig, Bela!
Liebe gegen rechts
Einerseits richtig, dass man mit Liebe durchaus Leute vom rechten Rand zurückholen kann. Das bestätigen auch Aussteiger aus der rechten Szene immer wieder. Andererseits ist das Ganze auch sicherlich mit einem Augenzwinkern zu verstehen, die Light-Version von Schrei nach Liebe sozusagen. Kann man machen.
Alle auf Brille
Ich weiß nicht, wann ich zuletzt wegen einem Song keuchend vor Lachen flach lag und überhaupt gar nichts mehr ging. Vielleicht noch nie. Und dieser Song schafft das nicht nur beim ersten Hören, sondern ziemlich zuverlässig bei so gut wie jedem Durchgang. Belas Gesangsleistung ist einfach der Hammer. Bitte live spielen!
Thor
Musikalisch geht der gut ab, textlich auch recht witzig. Ansonsten habe ich dazu nicht viel zu sagen, außer, dass ich auch diesen Track mag.
Leben vor dem Tod
Es entspricht nicht meiner Auffassung von Lebensglück, dieses von einer anderen Person abhängig zu machen. Darum suche ich in dem Text noch eine Möglichkeit, ihn in eine andere Richtung zu interpretieren, so in etwa, als ginge es darin um die Liebe selbst. Dazu bin ich allerdings noch nicht ganz durchgedrungen. Musikalisch aber top!
Woodburger
Dazu habe ich hier, denke ich, schon genug gesagt. Ich gehöre zu denen, die ihn mögen.
Was bleibt abschließend zur HELL zu sagen? Wer zufällig auch meine Rezension der "Winter" im New Model Army-Thread gelesen hat, der weiß vielleicht noch, dass es mir eine ganze Weile schwer fiel, wieder richtig euphorische Freude an Musik bzw. Kunst allgemein zu empfinden. Das Gefühl kam längst Stück für Stück wieder, aber eines hatte ich dann doch nicht mehr für möglich gehalten: dass mich, der ich mit strammen Schritten auf die 30 zugehe, eine Platte nochmal so abholt wie damals mit 16, 17, 18 Jahren. Das Album wächst wirklich mit jedem Durchgang und ich kann allen Songs etwas positives abgewinnen. Selbst die Länge stört mich nicht, eine Stunde kann man kaum besser totschlagen. Als ich letztes Jahr ein fast schon unerwartet gutes Hosenkonzert besuchte, lautete mein Fazit: "Ich hätte nicht gedacht, dass mich die alten Säcke noch einmal so abholen!" Das kann ich jetzt, diesmal an die Herren aus Berlin (auuuuus Berlin) gerichtet, nur wiederholen.
Danke, die Ärzte, für dieses geile Album, für diese geile Erfahrung! 10/10, ehrlich! 